Entscheidung des EuGH (RS. C-261-20) zur Anwendbarkeit des § 7 HOAI (2013) in noch anhängigen „Aufstockungsklagen“ (Mindestsatz HOAI)
Heute entschied der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Thelen Technopark Berlin (Rs.C-261/20) ein weiteres Mal zu der Frage der deutschen Regelung, die Mindesthonorare für die Leistungen von Architekten und Ingenieuren festsetzt (HOAI 2013). Der Gerichtshof hatte bereits entschieden, dass diese Regelung gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstößt. Nun stellt der Gerichtshof mit dem veröffentlichten Urteil vom 18.01.2022 klar, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit zwischen Privatpersonen anhängig ist, nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet sei, diese deutsche Regelung unangewendet zu lassen.
Ausgangslage des am 18. Januar 2022 ergangenen Urteils des EuGH (Rs. C-261/20) bildete die vom Bundesgerichtshof (BGH) dem EuGH vorgelegte Frage, ob aus dem Unionsrecht folgt, dass Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g) und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen eines laufenden Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen in der Weise unmittelbare Wirkung entfaltet, dass die dieser Richtlinie entgegenstehenden nationalen Regelungen in § 7 HOAI, wonach die in dieser Honorarordnung statuierten Mindestsätze für Planungs- und Überwachungsleistungen der Architekten und Ingenieure (…) verbindlich sind und eine die Mindestsätze unterschreitende Honorarvereinbarung in Verträgen mit Architekten und Ingenieuren unwirksam ist, nicht mehr anzuwenden sind. Im Falle der Verneinung stellte sich die Frage, ob - verkürzt gesagt - in der Regelung von Mindestsätzen in § 7 HOAI ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV oder gegen sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrecht zu sehen ist. Im Falle einer Bejahung der Vorlagefrage stellt sich die notwendige Folgefrage, ob Mindestsätze (hier § 7 HOAI ) nicht mehr anzuwenden sind.
Zum besseren Verständnis: In der HOAI (2013) waren zunächst zwingende Mindest- und Höchstsätze für einzelne Architekten- und Ingenieurleistungen festgelegt. Die Honorarabrechnung konnte dabei – auch bei bewusster Vereinbarung eines unter den Mindestsätzen der HOAI (2013) liegenden Honorars – auf Grundlage dieser Mindestsätze erfolgen. Diese Mindestsätze waren bislang im Rahmen einer sog. Aufstockungsklage nahezu stets einklagbar. Die EU-Kommission beanstandete schließlich im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 258 AEUV) einen Verstoß gegen Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g), Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie) aufgrund der in § 7 HOAI (2013) festgelegten Mindest- und Höchsthonorarsätze, da hierdurch Architekten und Ingenieuren aus anderen EU-Mitgliedsstaaten die Zutrittsmöglichkeit in den deutschen Markt erheblich erschwert werde. Eine Rechtfertigung dieser Beschränkung aus Verbraucherschutzgesichtspunkten, zur Sicherung der Leistungsqualität oder aufgrund anderer zwingender Gründe des Allgemeinwohls sah der EuGH nicht und stellte entsprechend fest, § 7 HOAI (2013) verstoße gegen Unionsrecht. Für alle ab dem 1. Januar 2021 geschlossenen Architekten- und Ingenieurverträge finden daher nun neue HOAI-Regelungen zur Honorargestaltung Anwendung, § 57 Abs. 2 HOAI (2021). Es gilt nunmehr der Grundsatz der freien Vergütungsvereinbarung für alle, von der HOAI erfassten Leistungen. Zwar enthält die neue HOAI weiterhin Honorartafeln, diese dienen jedoch lediglich der Preisorientierung. Eine zwingende Anwendung fordern diese hingegen nicht (mehr), § 2a Abs. 1 S. 1 HOAI. Zudem wurde die Terminologie des „Mindesthonorarsatzes“ in „Basishonorarsatz“ geändert, § 2a Abs. 2 HOAI.
Dem Vorlagebeschluss des BGH vom 14. Mai 2020 liegt ein klassischer Fall einer Aufstockungsklage zugrunde. Die Parteien hatten noch vor der Entscheidung des EuGH über die Unionsrechtswidrigkeit des § 7 HOAI (2013) im Jahr 2016 einen Ingenieurvertrag geschlossen. Dabei hatten die Parteien bewusst ein Pauschalhonorar vereinbart, das unterhalb der nach der HOAI (2013) geltenden Mindestsätze lag. Nach der Kündigung des Vertrags rechnete der Kläger seine bisher erbrachten Leistungen nicht nach der vereinbarten Pauschale, sondern nach den deutlich höheren Mindestsätzen der HOAI (2013) ab. Sowohl erst- als auch zweitinstanzlich konnte der Kläger diese Mindestsätze nahezu vollständig durchsetzen. Die entscheidende Frage, die der EuGH letztlich im Rahmen des sich hieran anschließenden Vorlageersuchens des BGH zu klären hatte, war, ob die gegen Unionsrecht verstoßenden Regelungen der HOAI (2013) in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen über einen Anspruch, der auf eben diese Regelungen gestützt ist, unangewendet zu lassen sind. Dies würde im Ergebnis dazu führen, dass eine Richtlinie (hier die Dienstleistungsrichtlinie) in einem ausschließlich privatrechtlichen Rechtsverhältnis derart berücksichtigt würde, dass sich diese auf die Rechtspositionen der Parteien auswirke. Diese Wirkung entstünde, obwohl der Richtlinie nach Art. 288 Abs. 3 AEUV grundsätzlich nur Bindungswirkung gegenüber den Mitgliedstaaten zukommt. Für eine Unanwendbarkeit der Regelungen der HOAI (2013) plädierte bereits der Generalanwalt beim EuGH Szpunar in seinen Schlussanträgen vom 15. Juli 2021. Der Generalanwalt stützte sich hierbei insbesondere auf Art. 15 Abs. 2 Buchstabe g) und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 als auch die Bestimmungen der Konkretisierung der sich aus Art. 49 AEUV ergebenden Niederlassungsfreiheit sowie das EU-Grundrecht der Vertragsfreiheit aus Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
Der EuGH zeigt eine vermittelnde Auffassung, indem er betont, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sich ausschließlich Privatpersonen gegenüberstehen, nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet ist, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die unter Verstoß gegen Art. 15 Abs 1, Abs. 2 Buchstabe g) und Abs.3 der Dienstleistungsrichtlinie Mindesthonorare für die Leistungen von Architekten und Ingenieuren festsetzt und die Unwirksamkeit von Vereinbarungen vorsieht, die von dieser Regelung abweichen. Der Gerichtshof hebt – zusammengefasst – hervor, zwar verpflichte der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen Vorschriften der EU volle Wirksamkeit zu verschaffen, dennoch sei ein nationales Gericht nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine Bestimmung seines nationalen Rechts, die mit einer Bestimmung des Unionsrechts in Widerspruch steht, unangewendet zu lassen, wenn die letztgenannte Bestimmung keine unmittelbare Wirkung habe. Gleichwohl davon unbeschadet könne dieses Gericht sowie jede zuständige nationale Verwaltungsbehörde die Anwendung jeder Bestimmung des nationalen Rechts, die gegen eine Bestimmung des Unionsrechts ohne unmittelbare Wirkung verstößt, aufgrund des nationalen Rechts ausschließen.
Im Zusammenhang mit dem Urteil vom 4. Juli 2019 (Rs. C-377/14), in dem der Gerichtshof nach Art. 260 Abs. 1 AEUV eine Vertragsverletzung eines Mitgliedsstaats feststellte, führt der EuGH in dieser Entscheidung vom 18.01.2022 aus: Die Urteile, mit denen solche Verstöße gestellt werden, hätten vor allem die Festlegung der Aufgaben der Mitgliedstaaten im Fall der Verletzung ihrer Pflichten zum Gegenstand und nicht die Verleihung von Rechten und Pflichten an Einzelne. Letzteres war der Gegenstand der Vorlagefrage des BGH in dem nun entschiedenen Fall. Daher, so der EuGH weiter, seien diese Gerichte und Behörden nicht allein aufgrund solcher Urteile verpflichtet, im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privaten eine nationale Regelung, die gegen die Bestimmung einer Richtlinie verstößt unangewendet zu lassen.
Wichtig ist jedoch der deutliche Hinweis des Gerichtshofs, dass, nachdem er bereits festgestellt hat, die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung sei nicht mit dem Unionsrecht vereinbar und ihre Beibehaltung stelle daher eine Vertragsverletzung seitens der Bundesrepublik Deutschland dar, dieser Verstoß gegen das Unionsrecht als offenkundig qualifiziert im Sinne seiner Rechtsprechung zur außervertraglichen Haftung eines Mitgliedstaats wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht anzusehen sei.
Dieses Urteil stellt klar, dass die Pflicht aus einer nationalen, nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren Regelung nicht die Verleihung von Rechten an Einzelne betreffen kann. Dennoch muss die mögliche außervertragliche Haftung des Mitgliedstaats aufgrund der bereits ergangenen Rechtsprechung des EuGH wegen des Verstoßes der nationalen Regelung zu den Mindestsätzen nach HOAI 2013 gegen das Unionsrecht beachtet werden. Dies wird nun der BGH zu berücksichtigen haben.
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