Blutanalyse mit Folgen?- EuGH rüttelt in Sachen „Roche Lietuva“ an Grenzen des Leistungsbestimmungsrechts
Jeder Auftraggeber kann grundsätzlich selbst bestimmen, welche Leistung er benötigt und wie er sie beschaffen will. Das kann der Vetternwirtschaft Tür und Tor öffnen. Das hat auch die (deutsche) Rechtsprechung erkannt und den Auftraggebern Grenzen gesetzt. Die bisherige Rechtslage hierzu erfährt durch eine aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in Sachen „Roche Lietuva“ Neuerungen (EuGH, Urteil vom 25.10.2018 – C-413/17 – „Roche Lietuva“). Was das für die Praxis bedeutet, erfahren Sie in diesem Beitrag.
Die bisherige Rechtslage
Dem Auftraggeber als Initiator des Vergabeverfahrens obliegt die Beschreibung des Leistungsgegenstands. Er entscheidet, was er in welcher Ausführungsart beschaffen will, denn das Vergaberecht regelt nicht das „ob“, sondern nur das „wie“ und damit die Art und Weise der Beschaffung. Das Leistungsbestimmungsrecht findet jedoch Grenzen, die sich insbesondere aus den vergaberechtlichen Prinzipien des Wettbewerbs, der Gleichbehandlung und der Transparenz ergeben. Konkret wird verlangt, dass die Leistungsbeschreibung allen Unternehmen gleichen Zugang zum Vergabeverfahren gewährt und die Öffnung des nationalen Beschaffungsmarktes für den Wettbewerb nicht in ungerechtfertigter Weise behindert wird (§ 31 Abs. 1 VgV, § 28 Abs. 1 SektVO). Mit anderen Worten: Die Leistungsbeschreibung muss produktneutral sein.
Zwischen dem grundsätzlich anerkannten Bestimmungsrecht des Auftraggebers und dem Gebot der produktneutralen Ausschreibung besteht naturgemäß ein Spannungsfeld: Die mittlerweile gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung löst dieses dadurch auf, dass geprüft wird, ob die Bestimmung durch den Auftragsgegenstand sachlich gerechtfertigt ist und dafür nachvollziehbare, objektive und auftragsbezogene Gründe vorliegen, wobei die Festlegung willkür- und diskriminierungsfrei sein muss.
Sofern ein Bieter eine technisch „bessere“ Lösung angeboten hat, die aber nicht den Vorgaben der Leistungsbeschreibung entsprach, konnte bisher der Zuschlag gleichwohl nicht auf sein Angebot erteilt werden, wenn der Auftraggeber für seine Anforderungen eine Begründung nach den vorstehend genannten Anforderungen nennen konnte. Der oft gehörte Einwand des Bieters, die eigene technische Lösung sei aber „besser“ als der ausgeschriebene Beschaffungsgegenstand und der Leistungsgegenstand sei ohne Not zu eng gefasst, wurde regelmäßig nicht berücksichtigt und das Leistungsbestimmungsrecht insoweit als vorrangig eingestuft.
Keine Hierarchie zwischen merkmalbezogener und funktionaler Ausschreibung
Der Entscheidung des EuGH lag folgender Sachverhalt zu Grunde: Die litauische Poliklinik Roche Lietuva schrieb im offenen Verfahren die „Miete von Labordiagnostikeinrichtungen für die Gesundheitsvorsorge und die Beschaffung von Material und Dienstleistungen zur Gewährleistung des ordnungsgemäßen Funktionierens dieser Einrichtungen“ aus. Ein Bieter war der Ansicht, die weiteren technischen Spezifikationen der Ausschreibung beschränkten den Wettbewerb zwischen den Bietern unangemessen, weil auf Produkte bestimmter Hersteller von Blutanalysegeräten zugeschnitten seien.
Im Laufe des Gerichtsverfahrens erfolgte eine Vorlage an den EuGH. Zentral war die Frage, inwieweit ein öffentlicher Auftraggeber bei der Festlegung der technischen Spezifikationen einer Ausschreibung zur Beschaffung medizinischer Geräte nach den Art. 18 und 42 der Richtlinie 2014/24 sowie den oben beschriebenen Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit auf die individuellen Merkmalen der Geräte (sog. Leistungsanforderungen) oder das Ergebnis der Funktionsweise dieser Geräte (sog. Funktionsanforderungen) abstellen kann.
In seiner Entscheidung hat der EuGH aus den einschlägigen Richtlinienvorschriften mit einem Wortlautargument hergeleitet, dass keine Hierarchie zwischen den beiden methodischen Ansätzen zur Leistungsbeschreibung besteht. Der Auftraggeber hat grundsätzlich ein weites Ermessen bei der Formulierung der technischen Spezifikationen eines Auftrags, auch wenn eine funktionale Ausschreibung auf den ersten Blick mehr freien Wettbewerb generieren mag.
Neuer Ansatz aus Luxemburg
Bei dieser Feststellung hat es der EuGH jedoch nicht belassen und zu den Grenzen des Leistungsbestimmungsrechts klargestellt:
- Das Vergabeverfahren darf nicht mit der Absicht konzipiert werden, es vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24 auszunehmen oder den Wettbewerb künstlich einzuschränken. Eine künstliche Einschränkung des Wettbewerbs liegt vor, wenn das Vergabeverfahren mit der Absicht konzipiert wurde, bestimmte Wirtschaftsteilnehmer auf unzulässige Weise zu bevorzugen oder zu benachteiligen.
- Je detaillierter die technischen Spezifikationen sind, desto größer ist die Gefahr, dass die Produkte eines bestimmten Herstellers bevorzugt werden. Umso mehr ist deshalb auf die Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung und Transparenz wert zu legen.
- Die Bedingungen, unter denen von einer produktneutralen Leistungsbeschreibung gemäß 42 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24/EU (und entsprechend § 31 Abs. 6 VgV und § 28 Abs. 6 SektVO) abgesehen werden kann, sind angesichts des Ausnahmecharakters dieser Bestimmung eng auszulegen.
Insoweit sind die Ausführungen des EuGH nicht wirklich überraschend. Neu ist dagegen, dass der EuGH (nunmehr) auch fordert, dass nationale Gerichte im Wege einer Verhältnismäßigkeitsprüfung untersuchen, ob die besondere Detailliertheit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden technischen Spezifikationen zur Erreichung des verfolgten Zieles notwendig ist. Dies könnte manchem bislang chancenlosen Bieter einen Weg zu einem für ihn erfolgreichen Vergabeverfahren öffnen: Während der bieterseitig häufig vorgebrachte Einwand, die eigene technische Lösung sei doch im Ergebnis sogar technisch besser als die ausgeschriebene Leistung, durch die Nachprüfungsinstanzen nicht gehört wurde, scheint der EuGH auch hier nun zu fordern, dass der Auftraggeber im Streitfall auch darzulegen hat, dass die Detailliertheit der Ausschreibung auch für sich genommen verhältnismäßig ist.
Dieser rechtliche Gedanke war bislang nur als Voraussetzung für ein Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb bekannt, §§ 14 Abs. 6 VgV, 13 Abs.6 SektVO, scheint nunmehr aber als generelle Überlegung in die Reichweitenbestimmung des Leistungsbestimmungsrechts einbezogen zu werden.
Eintagsfliege oder Zeitenwende?
Es bleibt abzuwarten, ob die obergerichtliche Rechtsprechung diesen Gedanken in ihre Maßstabsbestimmung zur Leistungsbestimmung aufnimmt. Auftraggeber sollten sich jedoch schon einmal vorsorglich auf einen eventuellen Begründungszwang einrichten und in ihre vorbereitenden Überlegungen aufnehmen, ob und warum die Leistungsbeschreibung so und nicht weniger einengend formuliert werden muss, um den eigentlichen Beschaffungsbedarf abzudecken. Der EuGH hat hinsichtlich der vorliegend zu beurteilenden Beschaffung im Gesundheitsbereich deutlich gemacht, dass der Gesundheit und dem Leben von Menschen höchster Wert zukommt und es grundsätzlich Sache der Mitgliedsstaaten ist, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Gesundheitsschutz der Bevölkerung gewährleisten. Dies scheint den Auftraggebern jedenfalls eine Hintertür zu öffnen. Für andere Beschaffungen könnten die Auftraggeber durchaus künftig einem noch weiter erhöhten Begründungs- und Dokumentationszwang ausgesetzt sein.
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