Klageindustrie nach amerikanischem Vorbild?

VW, Thomas Cook, Wirecard & Co. – Sammelklagen sind in aller Munde. Wenn es nach der EU geht, ist das aber noch nicht genug. Ein Siegeszug des Verbraucherschutzes oder der Grundstein für millionenschwere Massenklagen (sogenannte „Class Actions“) wie in den Vereinigten Staaten? Mit dem Inhalt und möglichen Folgen des Entwurfs beschäftigt sich dieser Blogbeitrag.

Verbandsklagen in Deutschland – ein Überblick

Spätestens seit dem VW-Abgasskandal hat jeder in der Bundesrepublik schon etwas von der Musterfeststellungsklage gehört. Dabei handelt es sich bei dieser Verbandsklage, die mit Wirkung zum 1. November 2018 in das deutsche Recht übernommen wurde, rechtshistorisch gesehen um einen Fremdkörper. Anders als andere Rechtsordnungen, wie z. B. die USA, wo eine bloße Gruppenbetroffenheit regelmäßig zu millionenschweren Sammelklagen – den sogenannter Class Actions – führt, setzt die deutsche Rechtsordnung im Hinblick auf eine zulässige Klageerhebung grundsätzlich voraus, dass eine individuelle Betroffenheit durch die Verletzung eigener Rechte vorliegt. Zwar wurden in der jüngeren Vergangenheit für eng eingegrenzte Regelungsbereiche (z. B. §§ 8 ff. UWG im Wettbewerbsrecht oder §§ 2, 3 UKlaG im Verbraucherrecht) neben der erwähnten Musterfeststellungsklage weitere sogenannte Verbandsklagen installiert; das klägerische Begehren beschränkt sich dort aber nur auf Unterlassungs- bzw. Beseitigungsansprüche. Schadensersatzansprüche können auf diesem Weg nicht geltend gemacht werden. Dies soll sich nunmehr über die EU-Verbandsklagerichtlinie ändern.

Immer wenn Verbandsklagen eingeführt wurden, handelte der deutsche Gesetzgeber aufgrund europäischer Vorgaben. So auch in der neuen EU-Verbandsklagerichtlinie, welche die Unterlassungsklage-Richtlinie (RL 2009/22/EG) ablöst und mit welcher sich die EU erneut den Verbraucherschutz ganz groß auf die Fahnen schreibt. Damit setzt sie einen Weg fort, der im April 2018 mit der „New Deal for Consumers“-Reform eingeleitet wurde.

Formal muss der veröffentlichte Entwurf der Richtlinie noch vom Rat der Europäischen Union angenommen werden. Mitgliedstaaten haben danach 24 Monate Zeit, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. In Anbetracht der aktuellen Lage und seiner Auslastung ist nicht davon auszugehen, dass der EU-Rat seine Zustimmung vor Oktober 2020 erteilen wird. Nationale Umsetzungen sind damit erst gegen 2023 zu erwarten.

Die EU-Verbandsklagerichtlinie „in a nutshell“

Ziel der EU-Verbandsklagerichtlinie ist es, Verbraucherrechte durch die Einführung eines kollektiven Rechtsdurchsetzungsverfahrens, der Verbandsklage, zu stärken. In den Erwägungsgründen führt die EU an, dass eine solche Verbandsklage bei geringeren Kosten für Verbraucher zu mehr Rechtssicherheit führen soll und damit letztlich jedem Verbraucher den Zugang zur Justiz erleichtern kann.

Dem Entwurf zufolge hat im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung und Digitalisierung das Risiko von Verstößen gegen Unionsrecht in der EU zugenommen. So könnten Unternehmer mit ein und derselben irreführenden Werbung oder unfairer Standardvertragsklausel Tausenden, wenn nicht sogar Millionen, von europäischen Verbrauchern schaden. Handlungsbedarf bestünde insbesondere deshalb, weil eine Reihe von Mitgliedstaaten bislang über gar keine kollektiven Schadensersatzverfahren verfügen würden. Hauptinstrumentarium der Richtlinie sind dabei qualifizierte Einrichtungen, die befugt sein sollen, im Namen von Verbrauchergruppen Verbandsklagen einzuleiten.

Der Inhalt der Richtlinie – wesentliche Regelungen

  • Der Anwendungsbereich der Richtlinie beschränkt sich gemäß Art. 2 auf bestimmte, im Anhang 1 der Richtlinie aufgezählte Regelungsbereiche. Es ist offensichtlich, dass die EU mit der Verbandsklage ihre eigenen Verbraucherrechte der letzten Jahrzehnte durchsetzen und schützen möchte. Dies betrifft beispielsweise folgende Bereiche:
    • Finanzdienstleistungen
    • Produkthaftung
    • Energie
    • Fluggastrechte
    • Eisenbahnverkehr
    • Telekommunikation
    • Gesundheit
    • Umwelt
    • Datenschutz
  • Qualifizierte Einrichtungen: Art. 4 regelt, dass qualifizierte Einrichtungen bestimmte Kriterien erfüllen müssen, um Verbraucherrechte einklagen zu können. So dürfen diese Einrichtungen keinen Erwerbszweck verfolgen und müssen ein berechtigtes Interesse daran haben, dass die Einhaltung der einschlägigen Unionsvorschriften gewährleistet ist. Klassischerweise werden dies insbesondere Verbraucherorganisationen oder unabhängige öffentliche Stellen Wichtig ist auch, dass diese Stellen bei Vorliegen der Kriterien erst durch den Mitgliedsstaat als solche benannt werden müssen.
  • Ist eine qualifizierte Einrichtung in einem Mitgliedsstaat benannt, soll diese auch in einem anderen Mitgliedsstaat, insbesondere bei grenzüberschreitenden Sachverhalten, agieren dürfen (Art. 16).
  • Um Interessenkonflikte zu vermeiden, müssen qualifizierte Einrichtungen ihre Finanzierungsquellen offenlegen (Art. 7).
  • Mit einer Verbandsklage sollen insbesondere folgende Rechtsziele erreicht werden können:
    • Einstweilige Verfügungen
    • Verfügungen zur Feststellung eines Verstoßes
    • Maßnahmen zur Beseitigung der fortdauernden Auswirkungen eines Verstoßes (sog. Abhilfebeschlüsse)
  • Es ist aber auch vorgesehen, dass diese Abhilfebeschlüsse, z. B. Schadensersatz, nicht in jeder denkbaren Konstellation ergehen sollen. In komplexen Fällen soll ein Abhilfebeschluss auch durch einen Feststellungsbeschluss über die Haftung des Unternehmers ersetzt werden können (dann ähnlich wie bei der Musterfeststellungsklage). Bei Bagatellsachen sollen anstelle von Schadensersatz auch Leistungen zugunsten eines anerkannten öffentlichen Zwecks möglich sein (z. B. Prozesskostenhilfefonds für Verbraucher).
  • Auch soll Klagemissbrauch vorgebeugt werden, indem dem Verlierer eines Prozesses die Kosten des Verfahrens auferlegt werden sollen.
  • Die Mitgliedsstaaten werden verpflichtet, die Richtlinie möglichst zugunsten der Verbraucher umzusetzen, d. h. insbesondere:
    • Ein kostengünstiges und schnelles Verfahren schaffen.
    • Art. 10 sieht vor, dass in bestimmten Fällen eine rechtskräftige Entscheidung auch für noch ausstehende vergleichbare Verfahren wirken soll.
    • Beugt sich der Unternehmer nicht einer rechtskräftigen Verbandsklageentscheidung, sollen Mitgliedstaaten wirksame, abschreckende und verhältnismäßige Sanktionen ergreifen.

Erst die DSGVO, dann die Verbandsklage-Richtlinie – jetzt wird Ernst gemacht

Dass die neue Richtlinie auch bei Datenschutzverstößen greifen soll, ist wenig überraschend. Nicht nur weil sich schon die ersten Entwürfe der Richtlinie auf die DSGVO bezogen haben, sondern insbesondere deshalb, weil die DSGVO 2016 einen ersten Vorstoß in Richtung Verbandsklage wagte (vgl. Art. 80 DSGVO), wenngleich die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen im Wege der Verbandsklage dort ausdrücklich ausgeschlossen war (vgl. Erwägungsgrund 142 der DSGVO).

In Deutschland wurden datenschutzrechtliche Schadensersatzansprüche durch einzelne Verletzte bislang selten vor Gericht gebracht. Die DSGVO selbst sieht in Art. 82 zwar die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen durch den Verletzten vor, zu vielen Klagen hat das – wohl wegen der Prozesskosten und der verhältnismäßig niedrigen Ansprüche – jedoch nicht geführt.

Dies soll sich mit der EU-Verbandsklagerichtlinie aber bald ändern: Während datenschutzrechtlich nachlässigere Unternehmen in der Vergangenheit vor allem empfindliche Bußgelder durch Behörden zu fürchten wussten, kommt durch die Richtlinie ein neuer Gegenspieler hinzu: der Verbraucher. Durch die neue prozessuale Möglichkeit eines vergleichsweise einfachen und kostengünstigen Massenprozesses drohen Unternehmen nämlich millionenschwere Klagen. Selbst bei geringen individuellen Schadensersatzforderungen kann durch eine hohe Zahl von Betroffenen schnell eine erhebliche Summe an Forderungen zulasten von Internetkonzernen und Großunternehmen generiert werden.

Ein Ausblick in die Zukunft – das Aus für die Musterfeststellungsklage?

In welcher konkreten Form die Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht erfolgen wird, kann aktuell noch nicht vorhergesehen werden. Sie ist an vielen, leider auch entscheidenden Stellen vage formuliert oder gar lückenhaft. Dabei muss sich der europäische Gesetzgeber auch ankreiden lassen, wichtige Grundsatzfragen nicht eindeutig zu regeln; diese können daher bei der Umsetzung in nationale Gesetze durch die einzelnen Mitgliedsstaaten unterschiedlich ausgestaltet werden. Unter anderem gibt die Richtlinie nicht vor, ob eine qualifizierte Einrichtung nur mit der Ermächtigung der betroffenen Verbraucher gegen ein Unternehmen vorgehen darf („Opt-in“) oder ob die Verbraucher automatisch an der Verbandsklage beteiligt sind, aber die Möglichkeit haben, aus dieser auszusteigen („Opt-out“). Eine Opt-out-Regelung würde starke Anreize für Massenklagen nach dem Vorbild der amerikanischen Class Actions schaffen.

Unklar bleibt damit letztlich auch das Schicksal der Musterfeststellungsklage. So sehr sich Verbandsklage und Musterfeststellungsklage im ersten Augenblick zu ähneln scheinen, unterscheiden sich beide evident, was ihre Voraussetzungen und Reichweite betrifft. Anders als die Musterfeststellungsklage beschränkt sich die EU-Verbandsklage nicht nur auf ein Feststellungsverfahren. Das erspart dem Verbraucher den privaten Folgeprozess, der der Musterfeststellungsklage immanent ist. Auch hinsichtlich der qualifizierten Einrichtungen gelten für die Verbandsklage gegenüber der Musterfeststellungsklage wesentlich geringere Anforderungen (z. B. keine Mindestmitgliederzahl, kein Klageregister etc.). Ob die Musterfeststellungsklage neben der Verbandsklage noch weiter Bestand haben wird, bleibt abzuwarten.

Fazit

Während der Schutz des europäischen Verbrauchers und dessen Vertrauen in den europäischen Binnenmarkt zweifelsfrei gestärkt werden, bleibt abzuwarten, ob die EU mit diesen Maßnahmen – bewusst oder unbewusst – nicht sogar mehr geliefert hat: den Boden für eine neue Klageindustrie nach amerikanischem Vorbild, mit ungeahnten Chancen und Risiken.

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