Öffentlichkeitsbeteiligung vs. Infrastruktur-beschleunigung

Scheitert die Nord Stream 2-Pipeline noch wegen fehlender Bürgerbeteiligung?

Diese Woche lief eine weithin unbeachtet gebliebene Meldung durch die Nachrichtenportale, wonach eine polnische (!) Umweltvereinigung aus Krakau gegen das Mammutprojekt Nord Stream 2 bei der dänischen Behörde, die für den dortigen Planfeststellungsbeschluss zuständig ist, offiziell eine Beschwerde eingelegt hat. Dem Vernehmen nach seien nach Auffassung der Umweltvereinigung u.a. nicht alle notwendigen Dokumente bei der Beantragung der Pipeline eingereicht und die Fristen für die Öffentlichkeitsbeteiligung zu kurz bemessen gewesen.

Die Nachricht ist wirtschaftlich und politisch brisant, weil die Pipeline mit einem Volumen von 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr und einem Investitionsvolumen von 8 Milliarden Euro mehrere europäische Ostseeanrainer betrifft. Insbesondere Deutschland, Finnland und Schweden haben bereits ihre Genehmigungen, d.h. in Deutschland den Planfeststellungsbeschluss, erteilt.

Dass diese Nachricht kaum mehr die Gemüter erregt, dürfte sicherlich mehrere Gründe haben. Eine Pipeline aus Russland und dann auch noch zur Verbrennung fossiler Energieträger wird in den betroffenen EU-Ländern nicht unbedingt jede Regierung und jeden Bürger begeistern. Sicherlich liegt dieses Desinteresse auch daran, dass heutzutage über Jahrzehnte geplante und z.T. rechtskräftig planfestgestellte Projekte häufig an einem einzigen Zauberwort zu scheitern drohen oder sich zumindest verlängern und verteuern: der Öffentlichkeitsbeteiligung bei Planfeststellungsverfahren.

Der Fall von Nord Stream 2 weist dabei einige Parallelen zu uns allen bekannten Fällen aus Deutschland auf, die da wären: langwierige Planfeststellungsverfahren, Klagen gegen den Beschluss durch alle Instanzen, etliche Jahre Bauverzögerungen. Genannt seien hier nur nationale Projekte wie Stuttgart 21 oder viele regionale Projekte wie Autobahnausbaumaßnahmen. Oftmals geht es dabei um umweltschutzbezogene Bürgerbeteiligungsrechte, die aus dem Europarecht herrühren.

Ablauf einer Planfeststellung: umfassende Ermittlung und Abwägung aller Interessen

Ein Planfeststellungsverfahren, wie es in Deutschland für die Nord Stream 2 durchgeführt wurde, ist ein besonderes Verwaltungsverfahren. Es muss stets gesetzlich besonders angeordnet werden. Die Durchführung des Verfahrens selbst ist in den Verwaltungsverfahrensgesetzen des Bundes und der Länder geregelt (vgl. §§ 72-78 VwVfG des Bundes). Fälle hierfür sind Bundestraßen, Flughäfen, Eisenbahnverkehrsanlagen, Mülldeponien oder der Straßenbahnbau. Damit sind nicht nur die größten Bauprojekte betroffen, sondern auch solche den Mittelstand und mittelgroße Kommunen betreffende.

Stets geht es um Großprojekte, bei denen eine „normale“ Baugenehmigung schlicht nicht mehr ausreicht, um alle rechtlich geschützten – politischen, sozialen, ökologischen und ökonomischen – Faktoren zu bewerten und in einen fairen Ausgleich zu bringen. Im Planfeststellungsverfahren werden also auch alle anderen Genehmigungen und Erlaubnisse, die von einer Baugenehmigung nicht umfasst wären (z.B. Konzessionen für Gewerbebetriebe) mitgenehmigt (sog. Konzentrationswirkung).

Außerdem ist das Planfeststellungsverfahren besonders formalisiert: Der Plan wird durch den Vorhabenträger (den Investor) bei der Behörde eingereicht. Dann erfolgt eine einmonatige Auslegung. Währenddessen kann sich ein jeder Betroffener, auch Umweltverbände, mit seinen Einwendungen Gehör verschaffen. Später erhobene Einwendungen sind – eigentlich – ausgeschlossen. Das bedeutet, dass sie, selbst wenn sie inhaltlich begründet sind, aus formalen Gründen auch in einem späteren Klageverfahren nicht mehr berücksichtigt werden (sog. Präklusionswirkung). Es folgt ein öffentlicher Erörterungstermin mit allen Betroffenen in den nächsten drei Monaten. Dies ersetzt die einfache Anhörung eines jeden Einzelnen aus dem „normalen“ Baugenehmigungsverfahren. Nach einem weiteren Monat folgt der Erlass des Planfeststellungsbeschlusses als Verwaltungsakt.

Zahlreiche Möglichkeiten für Bürger und Verbände gegen eine Planfeststellung vorzugehen

Ein Stück weit werden Sinn und Zweck der Planfeststellung durch die schier unendliche Zahl politischer und rechtlicher Möglichkeiten, gegen ein genehmigtes Großvorhaben vorzugehen, allerdings konterkariert. Einfallstor für die große Anzahl an Klageverfahren gegen Planfeststellungsbeschlüssen ist vor allem die sog. Verbandsklagebefugnis. Anders als sonst im deutschen Prozessrecht, lässt sie auch bei fehlender individueller Betroffenheit des Klägers die Klage zu. Die Möglichkeit der vollständigen Rechtmäßigkeitskontrolle des Planfest-stellungsbeschlusses ist damit gegeben.

Dieses Verbandsklagerecht im Umweltrecht fand seinen Weg nach Deutschland erst über europäische Richtlinien. Ein Verein muss hiernach nur sein ernsthaftes Eintreten für Ziele des Umweltschutzes darlegen. Weiterhin hat der EuGH bereits im Jahre 2011 (Trianel-Urteil) entschieden, dass das Verbandsklagerecht beschränkende Normen des deutschen Rechts europarechtswidrig sind. Er weitete die Rechte von Umweltverbänden dahingehend aus, dass keine subjektiv-individuellen Schutzrechte geltend gemacht werden müssen. Ein Umweltverband kann jede Rechtsverletzung rügen, auch nur solche des objektiven Rechts, die kein Individuum gerichtlich geltend machen könnte.

Daneben bleiben die Instrumente der Bürger- und Volksentscheide außerhalb des Planfeststellungsverfahrens, die im Kommunal- und Landesverfassungsrecht normiert sind. Hierbei reichen oftmals geringe Quoren aus, um eine die politischen Vertreter bindende Entscheidung des betroffenen Landes bzw. der betroffenen Kommune herbeizuführen; selbst wenn der Planfeststellungsbeschluss bereits rechtskräftig ist und nicht mehr angegriffen werden kann, bleibt damit Raum für politische Gruppierungen, gegen diesen zu agieren. Verpflichtungen aus Bürger- und Volksentscheiden „alles politisch und rechtlich Zulässige gegen ein spezielles Großvorhaben zu tun“ werden von der Rechtsprechung der deutschen Oberverwaltungsgerichte zum Teil als zulässig erachtet. Dazu zählen auch allerhand Klagen und Petitionen bei den EU-Institutionen, seien sie auch weitgehend aussichtslos. Ebenso zulässig ist es, das Land oder die Kommune zu verpflichten, aus mit dem Investor oder anderen öffentlichen Beteiligten geschlossenen Finanzierungsverträgen zu lösen.

Fazit: Sind mehr oder eher weniger Öffentlichkeitsbeteiligungsrechte zu wünschen?

Bürgerbeteiligung und Infrastrukturbeschleunigung – das ist meiner Meinung nach die Quadratur des Kreises. Aufgrund der Anweisungen des EuGHs aus dem Trianel-Urteil und anderen Urteilen hat der Bundestag im Jahre 2017 eine Ausweitung von Umweltverbandsklagerechten beschlossen. In CDU und FDP wurden im Lichte von notwendigen und zeitnahen Infrastrukturinvestitionen jüngst Forderungen laut, das Verbandsklagerecht doch wieder einzuschränken.

Ich halte eine tatsächliche Beschleunigung von Großprojekten unter dem geltenden deutschen und europäischen Verfahrensrecht für unrealistisch. Jedoch ist es aus meiner Sicht auch nicht erstrebenswert, bei Mammutprojekten die betroffenen Menschen aus dem Auge zu verlieren, nur um diese Projekte schnell und kostengünstig zu realisieren; man denke nur an den Drei-Schluchten-Staudamm in China oder den neuen Istanbuler Flughafen. Es braucht hier Augenmaß und m.E. eine Reduzierung des Verbandsklagerechts auf die Rechtsverletzungen, die auch ein deutscher oder europäischer Bürger gerichtlich geltend machen könnte. Den Umweltverbänden fehlt es nämlich an demokratischer Legitimation. Anders gesagt: wenn sie schon rein objektive Rechtsverletzungen geltend machen können sollen – warum nicht der Teilsouverän auch, also der einzelne Bürger?

Abschließend sei noch erwähnt, dass einzelne Projekte auch heute durchaus schnell durchgeführt werden können. Voraussetzung ist freilich, dass sämtliche Akteure – Investoren, beteiligte öffentliche Stellen von Kommune bis zum Bund mit Hilfe versierter Ingenieure, Architekten und Anwälte – an einem Strang ziehen. Das beste Beispiel dafür ist die nach etwa zehnjähriger Planungs- und Bauzeit ohne größere Probleme fertiggestellte neue S-Bahn-Haltestelle Gateway Gardens am Frankfurter Flughafen.

Ein Beitrag von

  • Johannes Jäger